10.5 Anwen­dungs­fälle auswählen

Jede Organisation muss für sich selbst eine Einschätzung des Aufwands und des Nutzens auf Grundlage der definierten Ziele vornehmen. Die Einordnungen in Abbildung 63 können dabei als Hilfestellung dienen. Je nach Ausgangslage und Analyse ist es gut möglich, dass die Zielerreichung als einfacher oder schwieriger eingestuft wird. Zudem muss ein gemeinsames Verständnis dafür geschaffen werden, was konkret unter dem Anwendungsfall verstanden wird und welche Massnahmen getroffen werden müssen, um den Anwendungsfall umzusetzen.

Grundsätzlich stützt sich die Auswahl und damit auch die Priorisierung der Massnahmen auf noch unerschlossene Potenziale (Chancen). Manchmal ist die Auswahl aber auch durch einen grossen Leidensdruck geprägt, der sich aus einem zwingenden Optimierungsbedarf in den Prozessabläufen ergibt. An der Umsetzung der Massnahmen sind fast immer mehrere Personen beteiligt, die später mit dem neuen Prozess arbeiten sollen, damit dieser auch effektiv ist. Deshalb stellt die Einordnung der Anwendungsfälle eine gemeinsame Tätigkeit und keine isolierte Einschätzung von Einzelpersonen dar.

In dem oben beschriebenen Fall wird die Unternehmung zunächst das heutige Vorgehen aufzeigen. Das kann bereits in der Diskussion des Anwendungsfalls oder bei der Zieldefinition geschehen. Wichtig dabei ist: Es muss ein gemeinsames Verständnis für den Nutzen geschaffen werden. Das erreicht man, indem man die Überlegungen der Beteiligten sichtbar macht. Dafür kann ganz einfach ein Flip-Chart oder eine beschreibbare Wand verwendet werden.

Umsetzung der Anwendungsfälle beurteilen
Abb. 63: Umsetzung der Anwendungsfälle beurteilen

Kernfragen für die Auswahl und Einordnung der Anwendungsfälle

  • Was können unsere Mitarbeiter bereits heute sehr gut?
  • Können wir die Auswirkungen der Anwendungen einschätzen?
  • Kennen wir die technologischen Potenziale?
  • Welche Interessen haben unsere Mitarbeitenden?
  • Wie viel Ressourcen (zeitlich und finanziell) wollen wir investieren?
  • Welche digitalen Werkzeuge haben wir heute schon im Einsatz, deren Potenzial wir nutzen können?
  • Sind die Anwendungsfälle machbar und sinnvoll?

Was kommt als Nächstes?

Geschäftsmodelle

Wie in den vorhergehenden Kapiteln aufgezeigt, haben sich durch die Einbindung von BIM in die Projektabläufe die Verantwortlichkeiten für die Planung verlagert. Elektrofirmen stellen jetzt zugelassene Ingenieure ein, damit sie Planungs- und Realisierungsleistungen komplett aus einer Hand anbieten können. Viele Elektrofirmen verfügen heute über eigene Vorfertigungsanlagen. Darüber hinaus beginnen einige von ihnen, bei Projekten, bei denen die Elektroinstallationen eine Hauptrolle spielen, die Funktion des Generalunternehmers zu übernehmen. Manche dieser Unternehmen haben auch angefangen, bestimmte Einrichtungen wie z. B. Datenzentren herzustellen, um schlüsselfertige Gebäude anbieten zu können. Zudem erweitern Elektrofirmen gerade ihre Leistungen und Geschäftsfelder auf die Unterstützung von Gebäudeverwaltungen bei der Gebäudebewirtschaftung, da Elektrosysteme eine Hauptrolle für die Leistung eines Gebäudes sowie für die Produktivität und den Komfort seiner Nutzer spielen.

Automatisierung, Robotik, Rückmeldungszyklen, virtuelle Realität

Neben der Automatisierung der Planung, Detailplanung und Fertigung beginnen Elektrofirmen, den Einsatz von Robotern bei der Auslegung, Montage, Fortschrittserfassung und Inspektion zu erkunden. So stellten wir in einem Anwenderbericht mit Kruse Smith, einem Generalunternehmer in Norwegen, und den Unterauftragnehmern für die technischen Systeme fest, dass durch den Einsatz eines Bohrroboters zum Installieren der Aufhängungen der Zeitaufwand für diese mühselige Arbeit (über Kopf in Beton bohren) um über 98 % verringert und somit eine Woche im Bauzeitenplan eingespart werden konnte.11 Eine weitere wichtige Entwicklung ist die zunehmende Automatisierung der Fortschrittsdatenerfassung durch Roboter wie den Spot von Boston Dynamic, durch Drohnen oder Geräte, die von den Beschäftigten getragen werden und mit den unterschiedlichsten Sensoren von Bildverarbeitungs- bis hin zu IoT-Geräten arbeiten. Diese schnelle Fortschrittsdatenerfassung hebt den Lernprozess zum Bauen bereits auf ein neues Niveau: der Überarbeitungsaufwand sinkt und Diskussionen, wie viel tatsächlich gearbeitet wurde und wer wem wie viel Geld schuldet, entfallen. Schon bald werden Leistungsfakten, die deutlich machen, welche Entscheidungen und Massnahmen zu mehr Sicherheit und Produktivität auf der Baustelle führen, Bauprojektteams in die Lage versetzen, die Auswirkungen ihrer Entscheidungen zur Abwicklung eines Projekts besser zu verstehen.

Bauunternehmen einschliesslich Elektrofirmen nutzen zunehmend auch virtuelle Realität, um sich mit ihren Kunden zu vernetzen und ihr Personal zu schulen.12

Diese und weitere noch entstehende Technologien dürften zusammen mit dem bereits begonnenen Umdenken zu den Mehrwertprozessen in Planung, Bau und Gebäudebewirtschaftung die Baubranche für junge intelligente Köpfe attraktiver machen und Bauwerke entstehen lassen, bei denen es die Norm und nicht die Ausnahme ist, dass ihre Nutzer und die Gesellschaft von den Ergebnissen begeistert sind.

Zum Abschluss dieser Einführung in VDC möchte ich gern die Empfehlungen der Projektteams aus den oben beschriebenen Meilensteinprojekten (Abbildung 17) weitergeben. Ich hatte sie gebeten, ihre wichtigsten Erkenntnisse und Empfehlungen kurz auf einer Seite für andere Teams zusammenzufassen, die ausserordentliche Ergebnisse erzielen möchten. Wie die Projektteams betonten, ist es zunächst wichtig, sich frühzeitig als echte Partner zu integrieren, um die Leistungskriterien für das Projekt zu definieren und die Planung und Bauausführung von Beginn an gemeinsam zu gestalten. Anschliessend sollte dieses integrierte Team seine Arbeiten planen, d. h. wie es die Herstellung eines optimalen Gebäudes angehen will. Entscheidend dabei ist, dass das Team im Modell abbildet, was es bauen wird – oder mit den Worten der Projektteams: «alles modelliert» –, und dann auch baut, was modelliert wurde. Schliesslich sollte die digitale und physische Produktion systematisch, z. B. mit dem Last Planner System gesteuert werden. Wie Sie sehen, fassen diese Empfehlungen die Elemente des VDC-Frameworks (Abbildung 2) zusammen.

Empfehlungen der Projektteams aus den Meilensteinprojekten für andere Projektteams, die ihren Erfolg wiederholen möchten
Abb. 17: Empfehlungen der Projektteams aus den Meilensteinprojekten für andere Projektteams, die ihren Erfolg wiederholen möchten

11 «Comparison of Construction Robots and Traditional Methods for Drilling, Drywall, and Layout Tasks» von Cynthia Brosque, Gunnar Skeie, Joakim Örn, Joel Jacobson, Tessa Lau und Martin Fischer, in: Proceedings of the International Congress on Human-Computer Interaction, Optimization and Robotic Applications (HORA), IEEE, 2020.

12 «Gamers Help Rosendin Advance VR and AR Technology on Construction Projects» von Becky Schultz, in: Construction Technology, For Construction Pros, 9. November 2020, https://www.forconstructionpros.com/construction-technology/ article/21200415/gamers-help-rosendin-advance-vr-and-ar-technology-on-construction-projects (zuletzt abgerufen am 3. Dezember 2020).

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Zitat: Was bleibt, ist die Veränderung: Was sich verändert, bleibt.
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